Die doppelte Paul-Müller-Straße
Unter dieser Überschrift berichtete Peter Haas in dem Heft des Heimat- und Geschichtsvereins Troisdorf e.V., Nr. 46, November 2008, auf den Seiten 17 bis 20:
Der Berichterstatter führt an dieser Stelle ein, dass Herr Paul Müller der Sohn des Gründungsvaters der Rheinisch- Westfälischen Sprengstoff AG, Troisdorf, (1886), Herrn Emil Müller war. Paul Müller führte das Unter- nehmen später unter dem Namen Dynamit AG (DAG), vormals Alfred Nobel & Co., Hamburg, von 1910 bis zum 4. April 1945 von Troisdorf aus.
„Beim Stöbern im Troisdorfer Pressespiegel der Nachkriegszeit stieß ich auf folgenden Artikel der „Rhein-Ruhr Zeitung“ vom 9. März 1949:
„Kleinstaaterei im Kleinen“
„Die
Gemeindegrenze zwischen Oberlar und Troisdorf verläuft sehr willkürlich
… – Selbst die meisten Einwohner kennen die Grenze nicht … – Die
Paul-Müller-Straße gibt es zweimal … – Es ergibt sich das ebenso
merkwürdige wie irreführende Bild, dass es etwa ein Haus Nr. 10 in
Troisdorf und 100 m weiter in Oberlar gibt … – Ein Troisdorfer
Gemeindevertreter bat, einvernehmlich mit Sieglar für Abhilfe zu sorgen
… – Zurzeit ist man in Sieglar sehr empfindlich. Man befürchtet Aus-
bzw. Eingemeindungswünsche. Das Sieglarer Rathaus gab als offizielle
Antwort ein eigentümlich berührendes Schreiben, in dem Troisdorf
großmütig anheim gestellt wurde, auf Troisdorfer Gebiet nach eigenem
Ermessen zu verfahren.“
Zunächst missfiel mir an diesem Beitrag, dass er von einem Journalisten stammte, der offenkundig einseitig Partei für Troisdorf ergriff, indem er dem Sieglarer Bürgermeister ohne Beleg und Erläuterung „ein eigentümlich berührendes Schreiben „ unterstellte und den Vorgang dadurch ironisierte, dass Sieglar den Troisdorfer „großmütig anheim gestellt“ habe, in Troisdorf „nach eigenem Ermessen zu verfahren“. Das wollte ich (Peter Haas, Anm. d. Berichterstatters) selbst 60 Jahre nach diesem Vorgang nicht auf den Sieglarern sitzen lassen, denn meine spontane Meinung war, wenn die Troisdorfer etwas ändern wollten, sollten sie es getrost bei sich tun.
Der Artikel weckte aber auch mein Interesse, weil ich bis dahin noch nicht wusste, dass es 1949 Troisdorfer „Eingemeindungswünsche“ gegeben haben soll. Schließlich fand ich noch eine Übereinstimmung mit dem Verfasser des Artikels, mir kommt die doppelte „Paul-Müller-Straße“ mit der doppelten Nummerierung ebenso seltsam und komisch vor wie ihm. Also machte ich mich ans Werk, um die Vorgänge von damals ein wenig zu rekonstruieren. Ich begann mit den Büchern der Sitzungen der Gemeindevertreter.
In der Niederschrift der Sitzung der Troisdorfer Gemeindevertretung vom 7. Januar 1949, Pkt. 4 Verschiedenes, steht auf Seite 646: “Gemeinderat Heimansberg machte die Gemeindverwaltung darauf aufmerksam, dass der Straßenzug Paul-Müller-Straße in Troisdorf in die Paul-Müller-Straße in Oberlar einmündet und dies auch bei der Bahnhofstraße in Troisdorf der Fall sei, welche sich mit der Bahnhofstraße in Oberlar vereinigt und hierdurch Unzuträglichkeiten in postalischer und anderer Hinsicht für die Anwohner dieser Straße entstehen. Zur Behebung der hierdurch entstehenden Schwierigkeiten wäre es ratsam, wenn die Hausnummern fortlaufend in den gleichnamigen Straßen von Troisdorf und Oberlar geführt würden. Nachdem Gemeindedirektor Langen auf diesen Antrag geantwortet hatte, machte Gemeinderat Engelmann den Vorschlag, dass zweckmäßig die Postverwaltung mit einem entsprechenden Antrage an die Gemeinden Sieglar und Troisdorf herantreten würde. Der Gemeindedirektor erklärte sich bereit, diese bei der Post in Troisdorf anzuregen.“
Befremdlich ist, dass der Protokollant nicht geschrieben hat, was Gemeindedirektor Langen auf Heimansbergs Frage geantwortet hat. Etwas Versöhnliches kann das nicht gewesen sein, sonst hätte Engelmann nicht den Vorschlag eingebracht, die Post als Antragsteller einzuschalten (und nicht etwa die Sieglarer direkt anzusprechen). In der folgenden Sitzung, am 11. September 1949, ist es niemand Geringerer als Dr. Wilhelm Hamacher, der die Katze aus dem Sack lässt. Der Protokollführer notiert: „Ferner machte der Bürgermeister (Hamacher) die Gemeindeverwaltung darauf aufmerksam, dass die Wünsche der Bewohner von Oberlar und Spich immer dringlicher nach einer Vereinigung mit der Gemeinde Troisdorf laut werden. Diesen Wünschen müsse auch von der Gemeindeverwaltung Beachtung geschenkt werden und möglichst dafür gesorgt werden, dass die Straßen an der Grenze dieser Ortschaften….im bestem Zustande gehalten würden“ (Protokollbuch S. 656 f). So war das wohl schon immer (nicht nur) in der Kommunalpolitik: „Mit Speck fängt man Mäuse“. Dem Troisdorfer Bürgermeister war wohl damals zu Ohren gekommen, dass Oberlarer Gemeindvertreter sich im Sieglarer Rat mehrfach beschwert hatten, ihre Strassen seien in schlechterem Zustand als die in anderen Ortschaften. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie auch mit dem Zaunpfahl gewunken hatten, etwa so: Wenn ihr uns in Sieglar nicht helft, dann wollen wir nach Troisdorf. Das machte Hamacher sich geschickt zunutze. Nicht etwa Troisdorf will Oberlar eingemeinden, sondern die Oberlarer selbst wollen das. Und um ihnen das noch schmackhafter zu machen, werden die an Oberlar grenzenden Strassen fein herausgeputzt.
Zwischen der Januar- und der Märzsitzung muss es Ereignisse gegeben haben, die Dr. Hamacher zu einem Sinneswandel veranlassten. Denn das Protokoll der Sitzungen am 4. und 7.3.1949 vermerkt unter Verschiedenes
(S.669):
„ Die Anregung des Gemeinderats Hein, die Eingemeindung der Ortschaft
Oberlar in die Wege zu leiten und die Stadtrechte von Troisdorf aus
Anlass des 50-jährigen Bestehens….in Antrag zu bringen, wurde von
Bürgermeister Dr. Hamacher dahingehend beantwortet, dass zurzeit keine Eingemeindungsanträge gestellt werden könnten.“
Zwei
tage später erschien der eingangs zitierte Artikel, der nunmehr noch
befremdlicher ist, hatte doch Dr. Hamacher sich klar von Bestrebungen,
Oberlar einzugemeinden, distanziert. Ob nun die Post oder die Gemeinde
Troisdorf sich in der Angelegenheit Paul-Müller-Strasse an die Gemeinde
Sieglar gewandt hatte, ist aus den mir bekannten Akten nicht zu ersehen.
Vielleicht war es auch nur der Artikel in der „Rhein-Ruhr-Zeitung“, der
den Sieglarer Bürgermeister in der Sitzung des Gemeinderats vom 23.
März 1949 zu folgender Äußerung veranlasste: „Bezüglich der Nummerierung
der Bahnstraße und Paul-Müller-Straße in Oberlar wird er (Bürgermeister
Dölger) versuchen, mit Troisdorf zu einer Verständigung zu kommen.“
Mich interessiert nicht so sehr die Frage, wann diese Einigung zustande gekommen ist….Mich interessiert mehr, wann und unter welchen Umständen diese beiden Straßen zu ihrem Namen gekommen sind.
Spätestens seit den Forschungen von Matthias Dederichs wissen wir, dass Generaldirektor Paul Müller am 4. April 1945 in Würgendorf Selbstmord beging (M. Dederichs, Troisdorfer Straßennamen und TJH von 2004, Hundert Jahre Kunststoffe aus Troisdorf, S. 38 ff). Sollte etwa unmittelbar nach dem Krieg, als die Besatzungsmächte das wieder beginnende demokratische Leben in Deutschland kontrollierten, bei uns eine Straße nach einem der bedeutendsten Wirtschaftsführer der Nazizeit benannt worden sein? Das hielt ich für unmöglich, und ich fand auch nirgendwo einen Hinweis darauf. Also musste es früher gewesen sein. Aber warum? Unser Mitglied Josef Steinbach gab mir einen Tipp. In der alten Einwohnerkartei von Troisdorf könnte es vielleicht Einträge geben. Er nannte mir auch die Namen von drei Familien, die schon vor dem Krieg in der gesuchten Strasse gewohnt hatten, darunter auch den Namen meines alten Schachkameraden Edmund Flerus. Aus seiner Kartei ersah ich, dass er seit 1919 in der Kölner Strasse 137 gewohnt hatte. 1929 hatte seine Familie offensichtlich am anderen Ende ihres Gartens gebaut. Die neue Anschrift lautet Viktoriastrasse 22. Diese Adresse war anscheinend 1929 durchgestrichen und durch „Paul-Müller-Straße 2“ ersetzt worden. Jetzt hatte ich also ein neues Betätigungsfeld, die Zeit um 1929.
Im Protokollbuch des Troisdorfer Gemeinderats 1926-1937 (Bestand A, Nr. 2417) fand ich den entscheidenden Hinweis im Protokoll der Sitzung vom 12. Juni 1929, S. 248 f: „Der Gemeinderat beschließt, dem Herrn Generaldirektor Dr. Paul Müller aus Anlass dessen 25-jährigen Jubiläums im Dienst der Rhein. Westfälischen Sprengstoff A.G. das Ehrenbürgerrecht zu gewähren. Ferner soll eine Straße nach dem Herrn Generaldirektor Dr. Müller benannt werden. Die Verwaltung wird beauftragt, eine entsprechende Vorlage zu machen. (Gegen den Beschluss stimmt der Gemeindevertreter Raelen).“ Wir haben es also bei der Paul-Müller-Straße mit einer der seltenen Benennungen zu tun, die dem Namensgeber noch zu seinen Lebzeiten ehren. Sieht man von den ab März 1933 massenweisen Unbenennungen von Straßen mit den Namen von lebenden Nazigrößen ab, so ist das der einzige mir bekannte Fall. Wenn man in der Zeit der Weimarer Demokratie von der guten Sitte abwich und eine Straße nach einer lebenden Persönlichkeit benannte, so kann es nicht nur ein schlichtes 25-jähriges Dienstjubiläum gewesen sein, sondern es mussten außerordentliche Verdienste vorliegen. Und die muss man in der Tat bescheinigen: Paul Müller hatte 1911 im Alter von 37 Jahren seinen Vater als Generaldirektor der Rheinisch Westfälischen Sprengstoff A.G. (RWS) beerbt. Schon die Führung eines Unternehmens mit vielen tausend Mitarbeitern im 1. Weltkrieg erforderte außergewöhnliche Fähigkeiten und Leistungen. Aber dass nach dem Krieg die Produktion –fast möchte man sagen aus dem Nichts heraus- auf Kunststoff umstellte, ist der deutliche Beleg für seine außergewöhnlichen Fähigkeiten……Kurz und gut: Den Bürgermeistern von Sieglar und Troisdorf (und zahlreichen anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens) war bewusst, welche Bedeutung die RWS als Arbeitsplatz für Tausende Menschen unserer Region hatte. Deshalb gratulierten sie ihm in überschwänglichen Worten, und deshalb ehrten sie ihn (mit der Benennung zweier Straßen nach ihm, Anm. d. Bearbeiters).
Selbstverständlich hatte ich 2004 den Aufsatz von Matthias Dederichs über „Hundert Jahre Kunststoffe aus Troisdorf“ im TJH (Troisdorfer Jahreshefte, A.d.B.) gelesen. Allerdings hatte ich die seitenlang abgedruckten Gratulationsreden und –schreiben übersprungen. Hätte ich diese damals gelesen, so hätte ich mir in den letzten Wochen viel Arbeit sparen können. Denn auf S.49 zitiert Dederichs das Telegramm des Troisdorfer Bürgermeisters Matthias Langen, aus dem ich nur die für mein Thema wichtigen Zeilen wiedergebe: „Die Gemeinde glaubt Ihnen….die höchste Auszeichnung, die sie zu vergeben hat, zuzuerkennen; indem ich Sie als Ehrenbürger und Freund der Gemeinde Troisdorf begrüße, darf ich Ihnen mitteilen, dass ich mir erlauben werde, Ihnen den Ehrenbürgerbrief in Bälde persönlich zu überreichen. Um auch nach außen hin unseren Dank abzustatten, hat die Gemeinde….eine Straße in unmittelbarer Nähe Ihres Werkes….“Paul-Müller-Straße“ benannt.“
Damit wäre eine Hälfte meiner Frage beantwortet: Die Troisdorfer benannten ein Stück Viktoriastraße, nämlich das zwischen Stationsweg und Emil-Müller-Straße, nach Paul Müller. Aber schon stellt sich ein neues Problem: Paul Müller feierte sein Dienstjubiläum am 1. Juni. Aus welchem Grund befasst sich der Gemeinderat erst am 12. Juni mit diesem Thema?
Das obige Gratulationsschreiben des Bürgermeisters Langen ist in der Festschrift abgedruckt, die zum 1. Juni veröffentlicht wurde (Stadtarchiv WA 2.1.1.). Da man für den Druck mindestens zwei Wochen rechnen muss, hatte Langen das Telegramm vermutlich Anfang Mai verfasst. Gewiss hat er sich vorher mit den Fraktionen im Rat angestimmt, so zu verfahren, wie es geschah, d.h. ohne offiziellen Ratsbeschluss Paul Müller zum Ehrenbürger zu ernennen. Da der entsprechende Beschluss am 12. Juni bei nur einer Gegenstimme über die Bühne ging, kann man ihm zumindest bestätigen, dass er geschickt gehandelt hat, wenn man feststellen muss, dass der Vorgang völlig stillos war. So gesehen war es ein Glück, dass Paul Müller in Köln wohnte, so dass er vermutlich nichts von der mit Mühe verhinderten Panne erfuhr.
Bleibt natürlich noch die Frage, warum der Sieglarer Bürgermeister Johann Lindlau in seinem Glückwunschschreiben keine Ehrung in Form einer Straßenbenennung nach Paul Müller erwähnt. Mit etwas Glück fand ich darauf eine Antwort. Unter Punkt 1 der Sitzung des Gemeinderats Sieglar vom 29. Februar 1929 heißt es: „Folgende Straßennamen in der Siedlung Homberg werden festgesetzt: a) Die Straßen neben dem Garten Kämmerer als Fortsetzung der Viktoriastraße Paul-Müller-Straße…..“
Die Sieglarer hatten den „Dr. Dr. e.h. Dr. Paul Müller, Ehrenbürger der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität“ (so seine Titulatur in der Festschrift vom 1. Juni) also schon vier Monate zuvor mit einer Straßenbenennung geehrt.
(Pikanterweise wurde die zweite Straße an der Homberg-Siedlung, die heutige Ohmstraße, ebenfalls nach einer lebenden Persönlichkeit benannt, nämlich nach dem amtierenden Bürgermeister Johann Lindlau „Lindlaustraße“.)
Ich beende meinen Ausflug in die Geschichte an der Stelle, an der ich begonnen habe: 1949. Bedenkt man, dass die Troisdorfer es selbst waren, die den Schlamassel mit der doppelten Paul-Müller-Straße mit den doppelten Hausnummern 20 Jahre zuvor angerichtet hatten, dann war ihr Ansinnen von 1949, von den Sieglarern eine Änderung zu erwirken, die reine Unverschämtheit. Man kann von Glück reden, dass die beiden gemeinden seit 1969 vereint sind. Wer weiß, welchen Unfug die sonst noch angestellt hätten.“
(Bearbeitet: Dr. Volker Hofmann, 13. März 2009)