PVC-Entwicklung in den 30er Jahren

Udo Tschimmel beschreibt in seinem hochinteressanten Buch „Die Zehntausend-Dollar Idee –Kunststoffgeschichte vom Celluloid zum Superchip“ (Econ-Verlag –Düsseldorf, Wien, New York, 1989) die Erfindung und technische Entwicklung von PVC zu einem Massenkunststoff, wobei Troisdorf eine besondere erfolgbringende Rolle spielte:

Tschimmel berichtet über erste Zufallsfunde kundiger Chemiker, nämlich von Victor Regnault, der 1835 zufällig (?) in Lyon Vinylchlorid in Lösung durch den Einfluss von Sonnenlicht zur Polymerisation brachte und in einem kleinen Reagenzglas ein weißes Pulver erzeugt hatte. Ohne es zu wissen, hatte er erstmalig PVC erzeugt. Seiner akribischen Berichterstattung verdanken wir das Wissen um seine Versuche – eine technische Nutzung sollte erst im 20. Jahrhundert beginnen: „So ließ der Chemiker Dr. Fritz Klatte von der chemischen Fabrik Griesheim Elektron bei Frankfurt/Main am 11. Oktober 1912 ein Verfahren zur Herstellung von PVC patentieren, wobei er das monomere Vinylchlorid aus Acetylen und Salzsäure hergestellt hatte.
Durch die später folgenden Arbeiten von Dr. Waller Reppe über die chemisch-industrielle Nutzung von Acetylen (aus Calciumcarbid und Wasser hergestellt) konnte anfangs der 30iger Jahre bei der BASF in Ludwigshafen Vinylchlorid großtechnisch hergestellt werden.

„Das nächste PVC-Kapitel wurde im Ludwigshafener Werk der I.G. Farben aufgeschlagen. Dort arbeitete Dr. Hans Fikentscher, der häufig Kontakt mit Herman Mark und Kurt Meyer (zusammen mit Prof. Staudinger Mitbegründer der modernen Polymer-Theorie zum Verständnis von Bildung, Struktur und Eigenschaften von makromolekularen Verbindungen). Wie bereits erwähnt, legten diese beiden Forscher gemeinsam mit Hermann Staudinger für das heute gültige Verständnis der Makromoleküle. In einem Bericht über Fikentscher schreibt Dietrich Hummel, Professor für physikalische Chemie in Köln:
„Am Gründonnerstag 1929 hatte Hans Fikentscher einen Kolben mit Acrylsäurechlorid stehenlassen, um nach Ostern damit weiterzuarbeiten. Am Dienstag nach Ostern hatte sich die Flüssigkeit…verwandelt: in ein Polymer, das zahlreichen Umsetzungen zugänglich war.“ Von diesem Zeitpunkt kann man Fikentscher in die Reihe der Acrylsäure-Anhänger einreihen. Durch das Zusammenbringen verschiedener Acrylverbindungen wollte er den langgesuchten, unbrennbaren Ersatzstoff für Celluloid finden. Ohne die Arbeiten von Otto Röhm in Darmstadt (Vater des Plexiglases) zu kennen, machte er sich mit dem überraschend vielfältigen Acrylgebiet vertraut…. Doch die Acrylverbindungen waren teuer. So lag es auf der Hand, zumindest eine Komponente im Polymer durch ein preiswertes Monomer zu ersetzen. Dafür bot sich Vinylchlorid an, das auch in anderen Werken der IG. Farben (z.B. in Bitterfeld) erforscht wurde. Fikentschers Rezept hieß: 80 Teile Vinylchlorid + 20 Teile Acrylsäuremethylester. Das war sie endlich, die Zusammensetzung, die nach fast einem Jahrhundert seit seiner Entdeckung dem PVC einige von seinen bislang verborgenen Fähigkeiten (reines PVC-Pulver ließ sich in damaliger Zeit ohne das heutige Wissen über Stabilisierung und notwendige Zusatzstoffe für die Verarbeitung thermoplastisch nicht verarbeiten – es kam immer wieder im heißen Zustand der thermoplastischen Verarbeitung zu Zersetzungen-) entlockte.
Mit Acrylsäure als Copolymer konnte man nun aus PVC Schallplatten pressen, Puppen, Rohre und Kämme herstellen. (Das Comonomer Acrylsäureester fungierte in dem Copolymer als Schlagzähmodifikator und Verarbeitungshilfe für die thermoplastische Verarbeitung im Extruder und der Presse gleichermaßen).
Die Chemiker nannten es „PVC-MP“, weil es ein Misch-Polymerisat war; die Marketing-Leute gaben ihm den Namen „Troluloid“, um an den Verarbeiter in Troisdorf, den Hersteller in Ludwigshafen und das zu ersetzende Konkurrenzprodukt Celluloid zu erinnern. (Der Bearbeiter möchte an dieser Stelle herausarbeiten: Die erfolgreiche Rezeptuierung mit notwendigen Zusatzstoffen wie Stabilisatoren, Schlagzäh-modifikatoren, Gleitmitteln, Pigmenten/Farbstoffen, Alterungsschutzmitteln, Füllstoffen  etc. und die Festlegung der erforderlichen Maschinenparameter und -auslegungen für eine erfolgreiche Verarbeitung wurden von den Chemikern und Technikern in Troisdorf für PVC zentral in der I.G Farben  erarbeitet. Sie haben diese wichtige Grundlage für den industriellen Einsatz von PVC erfolgreich geschaffen! In Troisdorf nannte man die neue Produktgruppe „MIPOLAM“, abgeleitet von Misch-Polymerisat, siehe dort, und man produzierte daraus Rohre, Folien, Platten, Stäbe und ähnliches daraus.)
Im Herbst 1935 traf sich in Frankfurt die Kuteko, die Kunststofftechnische Kommission, die die Anwendungsmöglichkeiten von neuen Kunststoffen erarbeiten sollte….Der Kunststoff musste zur Isolierung von Kabeln verwendet werden….Damals nannte man das PVC „Igelit“, abgeleitet von dem Hersteller I.G. Farben.
Deutschland exportierte seine PVC-Produkte auch in die Vereinigten Staaten von Amerika. Dort und in England lief die Produktion viel langsamer an….
Auf der Ausstellung „Schaffendes Volk“, die 1937 in Düsseldorf mit dem im Dritten Reich üblichen Propagandaaufwand veranstaltet wurde, konnte man über PVC-Boden gehen (der Marke MIPOLAM aus Troisdorf, Anmerkg. d. Bearb.). Mit Stolz wurde berichtet, dass die Fliesen nicht die geringsten Spuren von Abnutzung zeigten – obwohl Millionen Menschen darübergelaufen waren. In London drang das PVC sogar in die Domäne der altehrwürdigen Stadtbusse ein. Ab 1941 ließ das Passenger Transport Board die Sitze dieser Gefährte mit Kunstleder aus Vinyl überziehen – der Haltbarkeit und der Pflegefreundlichkeit wegen.
Für die noch junge Tontechnik kam der Kunststoff wie gerufen. PVC ließ sich ohne große Probleme zu Schallplatten pressen (siehe den Bericht über TROMIPHON in dieser Bibliothek).
Tschimmel berichtet dann über erfolgreiche Versuche von Technikern der I.G. Farben und der AEG, dünne PVC-Bände raus biaxial-gereckten PVC-Folien mit Eisenoxid.Staub zu beschichten und sie als Tonband in Tonbandgeräten zu verwenden.“

 
Bearbeitet: Dr. Volker Hofmann
                  Troisdorf, 08.06.2009